14. Juli 2016 Bericht Seite 13 im Unter-Emmentaler. Von Liselotte Jost-Zürcher
Im Einsatz für Natur und Mensch
Naturschutzgebiet Lauterbrunnental (Teil 1): Seit fünf Jahren arbeitet der Zoologe Christian Roesti als Schutzgebietsbetreuer (Ranger) im Pro-Natura-Schutzgebiet im Hinteren Lauterbrunnental. Nebst der Betreuungsarbeit leitet er auch Exkursionen, verfasst Statistiken der heimischen Flora und Fauna und leistet diverse Aufklärungsarbeit. Der «Unter-Emmentaler» hat den in Wasen aufgewachsenen Ranger durch den Bergfrühling begleitet.
Rund zwei bis drei Wochen später als in anderen Jahren ist auch im Hinteren Lauterbrunnental der Bergfrühling erwacht. Der Tag für die Exkursion durch die vielfältige Pflanzenwelt hätte nicht besser gewählt sein können: Taufrisch noch vom letzten Regen leuchteten die Farben der Bergblumen, das Grün in Wald und Matten besonders frisch. Bereits der Einstieg in das Schutzgebiet ab Stechelberg ist – buchstäblich – berauschend. Imposant, mit gegenwärtig sehr viel Wasser stürzt sich die Lütschine tosend zu Tal. Wiesen und Wälder sind hier besonders üppig. Stetig führt der Weg aufwärts, und schon nach wenigen Minuten lässt sich prächtige Flora, darunter Türkenbund, blühende Flocken- und Witwenblumen bewundern. Das Panorama ist überwältigend, der Himmel darüber stahlblau. Entsprechend bewundernde Ausrufe tönen aus der Exkursionsgruppe.
Vielfältige Fauna
«Jetzt erst kommen wir ins geschützte Gebiet – es wird noch viel schöner werden», verspricht Christian Roesti nach einer einstündigen Wanderung. Die Gegend wird noch wilder, die Weiden karger, der Duft der Alpenkräuter stärker. Immer wieder stossen der Exkursionsleiter oder ein Teilnehmer aus der Gruppe auf seltene Pflanzen oder besonders schöne Exemplare einer Alpenblume. Zuweilen entstehen Diskussionen, um welche Bergblume es sich handelt – einige lassen sich nur an kleinsten Details wie der Anzahl Staub- oder Blütenblätter oder an unterschiedlichen Blattformen erkennen. Über 30 Orchideenarten, zum Teil sehr seltene, gedeihen im wilden Bergtal, darunter das häufige Gefleckte Knabenkraut, das unscheinbare Kleine Zweiblatt oder der schöne Frauenschuh. Germer, die prächtige Grosse Sterndolde, Skabiosen und Alpendost schmücken die Wiesen, Nelken, Hauswurz, Veilchen, Glockenblumen und Steinbrech decken Steine und Felsbrocken. In eher feuchteren Lagen blühen die Butterblume (Trollblume) und weitere Hahnenfussarten, nahe den Überresten einer riesigen Lawine, unterhalb des Holdribachfalls sogar noch die Soldanelle und der Huflattich, das sogenannte «Zytrösli». Besonders gross ist die Freude, wenn die Gruppe auf seltene Pflanzen trifft wie das Moosauge oder der Korallenwurz.
Vielfalt dank zwei Gesteinsarten
Die ausserordentliche Pflanzenvielfalt ist vor allem auf das Aufeinandertreffen von Silikat- und Kalkgestein zurückzuführen, welches unterschiedlichen Pflanzen Lebensraum und die richtigen Bedingungen bietet. Ausserdem ist das Jungfraugebiet eine der wasserreichsten Gegenden der Schweiz, was die Vielfalt ebenfalls fördert. Die Wälder sind auch in höheren Lagen üppig: Aus viel herumliegendem Totholz ist neues Leben gewachsen. Die Hochalpenlandschaft ist landschaftlich sehr vielfältig. Am Rand der Gletscher entspringen zahlreiche Wildbäche, die sich in Kaskaden über die Felswände stürzen. Die Bergbäche beherbergen denn auch zahlreiche Wasserinsekten. Besonders sehenswert sind der Holdribach-, der Talbachfall und der Schmadribachfall. Überhaupt prägt seit Jahrtausenden das Wasser mit seine vielen, Gischt sprühenden Fällen das Tal, gibt ihm Form und auch Leben.
Neben unzähligen Blütenpflanzen sind im Hinteren Lauterbrunnental über 60 Vogelarten bekannt, wobei mindestens 25 davon brüten. Typische Brutvögel sind Haselhuhn, Rotkehlchen, Zitronenzeisig, Alpenbraunelle und Alpenschneehuhn. Hin und wieder zieht Christian Roesti das Schmetterlingsnetz hervor, fängt einen Tagfalter und zeigt ihn der Gruppe. «Wenn man gut zu ihnen ist und sie richtig behandelt, geschieht den Schmetterlingen nichts», sagt er, lässt den gefangenen Falter in einem Schauglas zirkulieren und entlässt ihn dann zurück in die Freiheit. Auch Steinfliegen und andere Insekten zeigt er und bietet damit die Gelegenheit, kleinste Lebewesen aus der Nähe zu betrachten, die sonst kaum wahrgenommen werden. Seltene Exemplare der Flora und Fauna bildet er ab und sendet sie per App zu statistischen Zwecken an die entsprechende Stelle. Diese Naturbeobachtungen sind ein Teil seiner Arbeit als Ranger.
Zuweilen macht er mit den Gruppenmitgliedern einen kleinen Test, lässt sie raten. Es ist offensichtlich, wieviel Freude ihm die Informationsarbeit bedeutet; seine Begeisterung ist ansteckend. Sehr wichtig wäre auch die Zusammenarbeit mit den Pächtern, stellt er fest. Die Bewirtschaftung der Alpen sei grundlegend für den Erhalt der Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren: «Würden die Alpen nicht mehr von den Kühen, Schafen oder Ziegen geweidet, die Alpweiden nicht mehr gepflegt, würde der Wald vordringen.»
Unter kantonalem Schutz
Es dürfte die Pionierarbeit von Pro Natura gewesen sein, dass hier trotz stetigem Wandel die Wildnis mit allen ihren Schönheiten erhalten geblieben ist. 1947 erwarb Pro Natura aus dem Erlös einer Schoggitaleraktion die Alp Untersteinberg. 1954 wurde das Schutzgebiet durch den Kauf der Alp Breitlauenen erweitert. 1960 stellte der Berner Regierungsrat das ganze Hintere Lauterbrunnental mit einer Fläche von rund 25 Quadratkilometern unter kantonalen Schutz. Es ist das grösste Naturschutzgebiet von Pro Natura – der Besitzerin der beiden Alpen – im Kanton Bern. 2011 wurde das neu erarbeitete Schutzkonzept verabschiedet, welches für die nächsten 15 Jahre die Schutzziele und die entsprechenden Massnahmen sowie die Wirkungskontrolle festlegt.
Dabei entstand auch die Idee, die Beobachtungen in der Wildnis zu registrieren und Besucherinnen und Besuchern an Ort und Stelle wertvolle Informationen abzugeben. So wurde 2012 mit Christian Roesti der erste Ranger im Hinteren Lauterbrunnental angestellt. Von Juni bis Oktober betreut er zwei bis drei Tage pro Woche das Schutzgebiet. Zu Besucherinformation und verschiedenen Monitoringaufgaben wie beispielsweise dem Erheben von Schmetterlingsbeständen kommt die Aufsicht über das gesamte Schutzgebiet. Unter anderem weist er, wo nötig darauf hin, Hunde an der Leine zu führen, keine Feuer zu entfachen, keine Beeren und Pflanzen zu pflücken oder gar auszugraben. Findet Christian Roesti Zeit, stellt er einen Informationstisch vor seiner Rangerhütte auf, spricht Besucher an und gibt ihnen wertvolle Informationen oder auch den praktischen Faltprospekt mit Karte und geologischen und geschichtlichen Hinweisen zum Schutzgebiet.
Vielfältiges Berufsleben als Zoologe, Autor, Reiseleiter und Ranger
Christian Roesti (1983) hat in Bern Zoologie studiert und seine Diplomarbeit über das Verhalten des Kiesbankgrashüpfers (Chorthippus pullus) im Pfynwald (VS) geschrieben. Seit seiner frühen Kindheit ist er fasziniert von der Natur. Das Zeichnen, Fotografieren und Beobachten von Heuschrecken und anderen Tieren war schon in jungen Jahren sein grösstes Hobby. Mittlerweile enthält sein Archiv mehrere Tausend schwarz-weisse Tuschzeichnungen von Heuschrecken und anderen Insekten. Jahrelang war er in den Wintermonaten unterwegs und besuchte verschiedene Länder in Asien, Südamerika, Afrika und Europa. Dabei galt sein Interesse der Natur, vornehmlich den Vögeln. Aber genauso faszinierten ihn unterschiedliche Kulturen. Im Jahr 2006 ging sein Traum in Erfüllung, als das Buch «Die Heuschrecken der Schweiz» der Co-Autoren Hannes & Bertrand Baur und Christian & Daniel Roesti im Haupt-Verlag veröffentlicht wurde. Drei Jahre später folgte das Buch «Die Stimmen der Heuschrecken», für das sich die Co-Autoren Christian Roesti & Bruno Keist in das spannende Gebiet der Bioakustik einarbeiteten. Seither gehören die Fotografie und das Aufnehmen von Stimmen von Vögeln, Insekten und anderen Tieren zu einer weiteren grossen Leidenschaft von Christian Roesti. Er engagiert sich im Natur- und Vogelschutzverein Wasen und ist unter anderem Reiseleiter bei Liberty Bird. Seit 2012 arbeitet er im Sommer als Schutzgebietsbetreuer (Ranger) im Pro-Natura-Schutzgebiet Hinteres Lauterbrunnental. Reservationen für individuelle Exkursionen: E-Mail: christian.roesti@pronatura.ch, Tel. 077 470 16 38, 079 502 98 00; www.pronatura.ch; www.orthoptera.ch.